BERTOLD HUMMEL - Texte zu den Werken: opus 63


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Dialoge für Violine und Orgel, op. 63 (1977)


I. Fantasia

II. Aria Anfang

III. Finale

 

Uraufführung: 7. Oktober 1977, Hannover, Marktkirche
Boris Goldstein / Manfred Brandstetter

Widmung: geschrieben für Boris Goldstein

Aufführungsdauer: 17 Minuten

Autograph A Partitur | B Violinstimme
Titel: Dialoge für Violine und Orgel (1977) op. 63 | Dialoge für Violine und Orgel op. 63
Umfang: I. und III. Satz 44 Seiten | 14 Seiten
Datierung: I. 2.1.77 / II. - III.
16.1.77 Würzburg
Aufbewahrungsort: -

Verlag: Schott Music ED 20282 / ISMN: 979-0-001-14977-8

I. II. III.

CHRISTOPHORUS LP 73902

 

Man hat sich in unserer Zeit allzu sehr daran gewöhnt, einen Komponisten an dem zu messen, was er "Neues" erfunden hat. Neue Effekte werden als Sensation empfunden, und doch sind sie bedeutungslos, solange sie nicht auf einer inneren Notwendigkeit basieren. In diesem Sinn kann man Hummel sicher nicht zu den Avantgardisten rechnen. Ebenso falsch wäre aber auch das Gegenteil, nämlich ihn etwa unter die Traditionalisten einordnen zu wollen. Hummel beherrscht alle wesentlichen neuereren Kompositionstechniken und setzt diese auch sinnvoll in seinen Werken ein. Deshalb eignen sich seine Werke auch besonders, neue Musik spontan zu erleben. Hummel schrieb seine Dialoge für den Geiger Boris Goldstein. Den zweiten Satz hatte sich Goldstein im Geiste Bachs gewünscht. Der Komponist lehnte sich deshalb an Bachsche Muster an, ohne dabei jedoch die eigene Sprache zu verleugnen. So wurde dieser Satz zu einem eindrucksvollen Beispiel, wie sich alte Formen mit neuem Geist erfüllen lassen. Das Finale steht im Zeichen atemberaubender Virtuosität. Dabei wendet Hummel neue Spieltechniken, wie z.B. Cluster, so logisch und konsequent an, dass sie sich völlig zwanglos in das stilistische Gefüge einordnen. Der erste Satz lebt vom Wechselspiel zwischen Geige und Orgel und hat wohl vor allem zur Namensgebung des Stückes (Dialoge) beigetragen.

Claus Kühnl (Plattencover Christophorus LP 73902)


Der Titel "Dialoge" ist sehr glücklich gewählt, wie der kompositorische Aufbau der 3 Sätze zeigt:
Während im 1. Satz beide Instrumente miteinander konfrontiert werden, d.h. in stetigen Wechselspiel stehen (hierin dem klassischen Konzert im Sinne eines Wettstreits von Solo und Orchester vergleichbar), vereinigen sich Violine und Orgel in der "Aria" zu einem kunstvollen 3-stimmigen Satz nach dem Vorbild J.S. Bachs. Das Finale bietet beiden Instrumenten Gelegenheit, sich in reizvollen, dialogisierenden Partien virtuos zu entfalten. Der 1. und 3. Satz stehen in direktem Bezug durch das gemeinsame thematische Material: kleine Terz, Tritonus, sowie ein Modus, der sich aus der Folge "kleine - große Sekund" zusammensetzt. Während im 1. Satz aus den Grundintervallen (Terz, Tritonus) drei gegensätzliche Themengruppen, ständig von Durchführungsteilen durchsetzt, entwickelt werden, dienen sie im Schlußsatz ausschließlich Akkordbildungen. Das Geschehen im 3. Satz bestimmen nicht mehr Themen im üblichen Sinn, sondern Motive, die den "Modus kleine-große Sekund" zur Grundlage haben. Es entstehen gewissermaßen größere Gruppen, aus Kleinstbausteinen zusammengesetzt. Bald als motorische Einwürfe, bald als Laufwerk in schier unerschöpflicher Phantasie in immer neuer Gestalt, ist der neue Modus ständig präsent. Im 1. Satz spielt dieser Modus eine Rolle sowohl als Baßfundament des im Mittelpunkt stehenden, stilisierten Chorals, als auch als motivischer Gegenpol zu der Intervallkonstellation "kleine Terz", "Tritonus". Die "Aria", der 2. Satz, folgt ganz eigenen Gesetzen. Auf einem chromatisch steigenden und fallenden Baß entwickelt der Komponist zwei - im polyphonen Geflecht miteinander korrespondierende - Linien, die nach dem Variationsprinzip, durch zunehmende Verdichtung, eine Steigerung erfahren.
Nach Form, Geschlossenheit und Ausdrucksstärke ein Meisterwerk in jener mit Originalwerken spärlich bedachten Sparte der Musikliteratur.


Claus Kühnl
(Erläuterungen zum Programm am 13. November 1977)


 

Presse

Fränkisches Volksblatt 15.11.1977

Da hörte man echte Literatur, keine Verlegenheitslösung, etwa zufällig für dieses Instrument verfaßt, auch keine auf beliebige andere Instrumente übertragbare Arbeit. Hummel hat diese Komposition ins "Herz der Violine" geschrieben. Form, Geschlossenheit und die Klarheit der Gedanken, phantasievoll und geistig durchdrungen, entfalten eine Ausdrucksstärke und einen Reichtum von musikalischen Einfällen, die dem jungen Opus einen festen Platz in der entsprechenden, spärlich bedachten Literatur zusichern.


Erstausgabe: J. Schuberth & Co., Eisenach 1995