BERTOLD HUMMEL - Texte zu den Werken: opus 90


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Der Schrein der Märtyrer (Textgestaltung: Paul Werner Scheele)
Oratorium für Sopran, Alt, Tenor, Bariton, Bass, Sprecher, gemischten Chor, Knabenchor, 3 Orgeln, Schlagzeugensemble und großes Orchester, op. 90 (1988/89)




Hörbeispiele:
2. Mare, fons, ostium Schluss
10. Im Seesturm (instrumental)
13. Wer ist da am Land?
42. Psalm 150 Schluss
 
Uraufführung: 14. Juli 1989, Würzburg, Kiliansdom
Barbara Schlick (Sopran), Lioba Braun (Alt), Clemens Bieber (Tenor), Martin Hummel (Bariton), David Midboe (Bass), Stephan Rehm (Sprecher), Würzburger Domchor mit Mädchenkantorei, Domsingknaben (Leitung: Franz J. Stoiber), Domorchester, Schlagzeugensemble (Leitung: Christoph Weinhart), Paul Damjakob (Hauptorgel), Gregor Frede (Chororgel), Michael Hanf (Orgel im Orchester), Gesamtleitung: Siegfried Koesler

Aufführungsdauer:
130 Minuten


Autograph:

Titel: "Der Schrein der Märtyrer"
Umfang: 362 Seiten
Datierung: I. Nr.2 6.4.88 II. - III. Nr.14 18.9.88 / Nr.15 20.Sept.88 IV. Nr.17 8.10.88 / Nr.18 14.Okt.88 / Nr.20 20.10.88 V. Nr.24 16.Nov.88 / Nr.25 17.Nov.88 / Nr.26 19.11.88 / Nr.27 27.11.88 VI. Nr.28 13.12.88 / Nr.29 22.12.88 / Nr.30 29.12.88 / Nr.32 2.1.89 / Nr.33 12.1.89 VII. Nr.36 4.2.89 / Nr.37 17.2.89 VIII. Nr.41 3.3.89 / Nr.42 3.4.89 D.S.G.
Aufbewahrungsort: Bayerische Staatsbibliothek, München


Verlag:
Schott Music ED 20290 / ISMN: M-001-14995-2 (Partitur und Klavierauszug käuflich)


Conventus Musicus CM 100-1/2



Das Textbuch



Das Oratorium „Der Schrein der Märtyrer“ teilt Sinn und Ziel, Thematik und Aufbau mit dem Kiliansschrein von Heinrich Gerhard Bücker, der seit 1987 in der Westkrypta der Neumünsterkirche steht. Beide Kunstwerke wollen der Verherrlichung Gottes dienen und die Großtaten verkünden, die in Christus und den Heiligen geschehen sind. Beide erinnern an die Märtyrer, die vor 1300 Jahren hier den Tod fanden, und zugleich an die Ungezählten, die vor und nach ihnen ein ähnliches Geschick erlitten haben. Schließlich bieten beide Hilfe zur Besinnung und Entscheidung an.

Stück um Stück nimmt das Oratorium die Thematik des Schreines auf, indem es dessen Struktur in die Sprache der Musik überträgt. Am Anfang der beiden groß angelegten Ecksätze stehen Worte aus der "Lorica Patricks", die bereits zur Zeit der Frankenapostel zum täglichen Leben vieler Iren gehörte:

"Heute gürte ich mich mit einer großen Macht
auf meinem Weg zum Schöpfer hin:
mit der Anrufung der heiligen Dreifaltigkeit."

Diese Worte sind wie ein Vorzeichen, das für das ganze Werk gilt. Sie lenken den Blick auf den dreieinigen Gott, der mit Texten aus mittelalterlichen Kilianshymnen gepriesen wird. Er ist "Meer, Quelle, Mündung" alles Guten. Jede Chorstimme wird durch verschiedene dreitönige Motive bestimmt, die je für sich wie im Zusammenhang auf das Geheimnis der Dreieinigkeit hinweisen, so wie es das Relief des Gnadenstuhls auf seine Weise tut.

Es schließen sich sechs Sätze an, die jeweils aus zwei aufeinander bezogenen Hälften bestehen, einem Bibel- und einem Märtyrerteil. Der erste ist lateinisch, der zweite deutsch konzipiert. Den Bildtafeln des Schreins gemäß heißt die Thematik:
 
Berufung der ersten Jünger – Berufung  der Frankenapostel
Im Seesturm – Auf hoher See
Bergpredigt – Missionarischer Einsatz
Hohepriesterliches Gebet –Vorbereitung auf den Tod
Kreuz und Tod – Martyrium
Auferstehung – Himmlische Herrlichkeit
 
Das biblische Ereignis wird jeweils vom Evangelisten (Bariton) verkündet. Solisten und Chor nehmen die Botschaft auf, meditieren sie, danken für sie und geben sie weiter. Dabei erklingen zentrale biblische Texte wie Offb 1,6: "Der Herr hat uns zu Königen gemacht und zu Priestern vor Gott, seinem Vater", Mt 5,3 - 10: die acht Seligkeiten, und Eph 4,4 - 6: der dreigliedrige urchristliche Lobpreis der gottgegebenen Einheit.

Den Anfang des Märtyrerteils bildet jeweils ein kurzes Wort, das von Kilian (Tenor) gesungen wird. Es nimmt irische Motive auf, in denen menschliche Grundsituationen beschworen werden. Die damit gestellten Fragen finden eine Antwort in den Passio Kiliani – Aussagen, die ein Sprecher von der Orgelbühne aus vorträgt. Solisten und Chor gehen auf die geschilderten Ereignisse ein und besingen sie mit Worten, die größtenteils irischen Zeugnissen zu verdanken sind. Diese münden in den Lobpreis, den wir Kolumban, einem Vorläufer des hl. Kilian, ver­danken:

"Du bist unser ein und alles. Du bist unser Herr und Gott."

Der Schlußsatz schlägt formal wie ideell die Brücke zum Beginn des Oratoriums. Erneut erklingt die "Lorica Patricks", nun erweitert um den Bezug auf die Heiligen:
 
"Ich erhebe mich heute
in der Verkündigung der Apostel,
im Glauben der Bekenner,
im Zeugnis der Märtyrer."
 
Verse aus der mittelalterlichen lateinischen Kilianssequenz folgen. In ihnen sind ursprüngliche Choralmelodien und archaische Klänge mit modernen Ausdrucksformen verbunden. Dann wird das große Halleluja angestimmt, das alle Mitwirkenden vereint. Wie der Psalm 150 den biblischen Psalter krönt, so bildet er im Oratorium die glanzvolle Schlußapotheose. Am Ende steht die Doxologie. Der zu Beginn gesungene Vers: "Ehre sei dem Va­ter und dem Sohn und dem Heiligen Geist" erklingt erneut; jetzt wird er mit den Worten vervollständigt: "Wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen. "
Bischof Paul-Werner Scheele (im Programmheft der Uraufführung am 14. Juli 1989)





Der Komponist spricht zum Werk
Bertold Hummel vor dem "Kiliansschrein" mit der Partitur des Oratoriums
(Foto: Theresia Ruppert)


Am 12. November 2000 hörte ich zum zweiten Mal den "Schrein der Märtyrer", das Opus summum meines einstigen Lehrers Bertold Hummel im Würzburger Dom. Die elementare Wucht dieses Werkes - in dieser Hinsicht Orffs "Carmina burana" vergleichbar - hat mich erschüttert. Welch großes Wissen um das Wesen von Natur und Mensch ist in diese Partitur eingeflossen: Unvergeßlich die webenden und duftenden Klänge des "Frühlings", die gefährliche Gespaltenheit des Herzogs, der sich wünscht, seine Bosheit möge in Güte gewandelt werden, unvergeßlich das schöne Altsolo, in dem sich Hummel die Musik von J.S. Bach anverwandelt hat, unvergeßlich die seltsamen Klänge nach der Reprise: hier wird ein Bogen über 2000 Jahre christlicher Glaubenserfahrung gespannt.
Claus Kühnl (5.12.2000)



Presse

Musica Sacra Juli/August 1989

Das Jahrhundert-Oratorium im Würzburger Dom
Bertold Hummels "Der Schrein der Märtyrer" wurde mit großem Erfolg uraufgeführt.
Fast kann man sagen, daß die Musikgeschichte seit fast mehr als zweihundert Jahren zwar von Chorwerken geistlichen Inhalts, auch mit Schrifttexten usw. sprechen kann, von Werken, die auch den Namen Oratorium tragen, vielfach aber nur von der formalen Gestaltung her, sodaß auch von einem weltlichen Oratorium gesprochen wird, was eigentlich ein Nonsens ist, auch wenn Haydn in seinen Jahreszeiten große Dank-und Amen-Passagen schreibt, nicht aber von wirklichen Oratorien. Es soll hier nicht untersucht werden, warum das so ist. Der Gedanke drängt sich aber auf, wenn man mit einem echten Oratorium konfrontiert wird, wie es dieses Werk "Der Schrein der Märtyrer" von Bertold Hummel ist.
Kirchenmusikern ist der Komponist Hummel wohl ein Begriff, denn der Name zumindest, auch wenn sie vielleicht noch nichts von ihm gesungen oder gespielt haben, begegnet in den neueren Publikationen gottesdienstlicher Musik ständig. Und ein guter Organist wird mit seinem inzwischen berühmt gewordenen "Alleluja" seine Gemeinde mit zeitgenössischer Orgelmusik nicht nur konfrontieren, sondern vielleicht auch gewinnen können, denn das berühmte Oster-Alleluja ist gut hörbar ständig präsent.
Hummel weiß, was ein Oratorium wirklich und ursprünglich ist. Er war praktizierender Kirchenmusiker durch viele Jahre und er verwechselt nicht den Begriff des Betsaal, des "Oratorium", mit dem Konzertsaal. Er weiß, wie man musikalisch mit biblischen, legendären und den unumstößlichen Texten der christlichen Heilslehre am Ausgang des zweiten Jahrtausends der christlichen Zeitrechnung, die Tradition einbeziehend und der Gegenwart gerecht werdend, umgehen kann und der Aussagekraft des Textes entsprechend offenbar auch muß, denn das, was zu hören war, ist einfach überzeugend und zwingend.
Der Text wurde von Bischof Paul-Werner Scheele konzipiert, in Zusammenarbeit mit dem Komponisten, wie das bei allen großen Vokalwerken eigentlich üblich war und ist. Das Ganze ist ein Auftragswerk des Bischofs von Würzburg, der Diözese der Frankenapostel also, aus Anlaß des Martyriums der Hl. Kilian, Kolonat und Totnan vor 1300 Jahren.
Laut den Worten von Bischof Scheele in dem vorzüglich aufgemachten Programmheft teilt das Werk "Sinn und Ziel, Thematik und Aufbau mit dem Kiliansschrein von H. G. Bücker, der seit 1978 in der Westkrypta der Neumünsterkirche steht." Die betreffenden Seiten des Schreins, die Inhalt und Textaussage inspiriert haben, sind an den jeweiligen Stellen im Programmheft auch bildlich vorgestellt. Im Text selbst finden sich Ausschnitte aus der uralten irischen "Lorica Patricks", biblische Ereignisse und neutestamentliche Texte, dazu mittelalterliche Texte, Hymnen, Sequenzen und andere geistliche Dichtungen.
Die Besetzung für dieses Werk, das op. 90 von Bertold Hummel, macht im ersten Augenblick staunen. Fünf Sängersolisten, ein Sprecher, großer Chor, Mädchenchor, Knabenchor, Orchester, Schlagzeugensemble im Orchester und auf der Empore bei der großen Orgel, Chororgel, Orgel im Orchester. Aber das Werk ist für den Kiliansdom in Würzburg geschrieben, wo diese Möglichkeiten gegeben sind.
Die Wechselwirkung von Raum und Werk ist kein neues Phänomen. Musterbeispiel dafür ist ja wohl auch die französische Orgelmusik, wobei da die Orgel an sich noch hinzukommt. Für eine Aufführung in einer anderen Kirche würde der Komponist sicher Bearbeitungen vornehmen.
Vielleicht führt es etwas weit, aber mir scheint das Werk so bedeutend, daß eine Nennung der verschiedenen Kompositionselemente und Praktiken, die die ganze Musik des christlichen Abendlandes widerspiegeln, gerechtfertigt ist.
Der Dreifaltigkeit wird nach gesprochenem Text aus der Lorica Patricks zu Orgel und Schlagzeug gehuldigt und der Hörer mitten in die Musik unserer Tage hineingeworfen. Herausgeführt wird er anschließend durch eine monumentale, auch im Unisono in archaischem Duktus konzipierte Trinitätsstrophe aus einem Vesperhymnus zum Kiliansfest.
Bei der Berufung der ersten Jünger mit dem Markus-Text (Mk 1,16–18) der Berufung des Simon und Andreas wird der Evangelist (Bariton) eingeführt, rezitativisch vor durchsichtigem Orchester, die Rezitativelemente mit großen anspruchsvollen Melismen angereichert. An ein klassisches Accompagnato erinnert das Petruswort aus seinem 1. Brief von der königlichen Priesterschaft (1 Petr 2,9). Der Chor antwortet mit "Dominus fecit nos regnum" (0ff 1,6) zu einem geheimnisvoll verhaltenen Satz feinster Polyphonie.
Bei der Berufung der Frankenapostel wird Kilian (Tenor) mit einer wunderschönen Kantilene eingeführt. Aus Lukas sind die folgenden Texte von der Nachfolge, was schließlich in einem anonymen Text aus dem 12. Jh. gipfelt mit einer wunderbaren Natur- und Lebensschilderung von der Allgegenwart Christi, ein Frauenchor von hoher Anmut zusammen mit dem alles überstrahlenden Solosopran in einem faszinierenden Gesamtklang.
Im dritten Teil "Seesturm" denkt man an eine Naturschilderung des Barock oder der Frühklassik wenn auch mit zwei Orgeln und Perkussionsinstrumenten, richtig drohend, bevor der Evangelist im Rezitativ die Seesturm-Perikope (Mk 4,37–40) in Erinnerung ruft.
Ein ganz zentraler Part des Ganzen ist die Bergpredigt, wo schon die Ankündigung des Evangelisten "et aperiens os suum dicens" (Mt 5,1 f) einfach unter die Haut geht. Die folgenden acht Seligkeiten sind auf die verschiedensten solistischen und chorischen Besetzungen verteilt, wobei etwa Altsolo und Männerchor zu den Seligen reinen Herzens in der Klangkombination an so etwas unwiederbringlich Schönes wie an die Altrhapsodie von Brahms denken lassen.
Bei der Schilderung des Missionarischen Einsatzes der Frankenapostel läßt die Stimme des Herzogs (Bass) aufhorchen, wenn er Gott um die Wandlung seines Herzens bittet, wo vom Instrumentarium und der musikalischen Diktion her durchaus der weltliche Fürst auch musikalisch "weltlich" erscheint.
Ein Besonderes in ihrem Wohlklang und ihrer musikalischen Durchsichtigkeit und auch so interpretiert ist die Ergänzung des hohepriesterlichen Gebets (Joh 17,1) in dem Text aus dem Epheserbrief "Unum corpus et unus Spiritus" für Altsolo und Holzbläser. Auch hier, wie so oft in diesem Oratorium, eine ausgedehnte Vokalise, die die schönsten gregorianischen Melismen ins virtuos und doch verinnerlicht Unendliche fortzusetzen scheint. Sehr ähnliches folgt vom Sopran mit dem ganzen Orchester im Anschluß an die eindringliche Evangelistenschilderung des Golgathageschehens zu dem Johannes-Text "Niemand hat größere Liebe, als wenn er sein Leben für seine Freunde hingibt". So vollkommen im textlichen Bezug zur folgenden Schilderung des Martyriums der irischen Mönche. Folgend noch die Teile "Auferstehung" und "Himmlische Herrlichkeit": wobei bei dem "Christus resurrexit a mortuis" (1. Kor, 20–22) das uralte "Christ ist erstanden" in die Komposition einbezogen ist, fast unterschwellig als eine Beteiligung des gläubigen Volkes.
Die abschließende Huldigung für die drei Frankenapostel, die wieder mit dem Eingangsprolog des Sprechers eingeleitet wird, bringt die Kilianssequenz in verschiedenen Kompositionspraktiken vom Unisono über Organumtechniken zum gemischten Chor. Mit dem das ganze Werk krönenden Psalm 150 läßt der Komponist das über zweistündige Werk zu einer Apotheose von unbeschreiblicher Größe und kompositorischen Dichte anwachsen. Eine Dichte, die man angesichts des riesigen Aufführungsapparates hätte vermuten oder befürchten können durch das ganze Werk. Dem war aber nicht so, denn die Fülle und Monumentalität wird in diesem Oratorium durch eine in wunderbarer Transparenz angeordneten Vielfalt erreicht, die hinwiederum ganz aus den ebenso vielfältigen Texten erwachsen sein muß.
Hier aber läßt er die ersten Psalmverse des "Laudate Dominum in sanctis eius" nach dem eröffnenden Halleluja mit einem ehrfurchtgebietenden, von massivem Blech zu irisierenden Streicherclustern als eine Art Ritornell gestalteten Instrumentalsatz unterbrochen von Chor, Sprecher, Sprechchören, Baßsolo, Sopransolo und schließlich dem ganzen Ensemble erklingen um dann letztendlich das "Gloria Patri" von allen beginnend langsam in einem auf alles bezogenen Diminuendo bis zum Knabenchor allein zum "...in saecula saeculorum. Amen" im Raum nicht verhallen, sondern nachklingen. Ein Schluß, der eine Faszination ausstrahlte, die eine minutenlange Stille, ein inneres Nachhören im überfüllten Kiliansdom erzeugte, bevor der riesige Applaus losbrach.
FAS

Literatur-Tipp:
Franz Fleckenstein: Musik zu Ehren des Heiligen Kilian und seiner Gefährten, Würzburger katholisches Sonntagsblatt, Würzburg 18.6.1989



Paul Werner Scheele: Erinnerung an die Entstehung des Oratoriums "Der Schrein der Märtyrer" von Bertold Hummel, Würzburger Diözesan-Geschichtsblätter Band 66, Würzburg, 2004, S. 363-384
Paul Werner Scheele: Das Oratorium "Der Schrein der Märtyrer" von Bertold Hummel, Würzburger katholisches Sonntagsblatt, Würzburg 18.6.1989