BERTOLD HUMMEL - Texte zu den Werken: opus 71c


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Herbsttag (Rainer Maria Rilke) für mittlere Singstimme und Klavier, op. 71c (1980)


Uraufführung: 17. März 1987 / Würzburg / Toscanasaal der Residenz

Martin Hummel / Thomas Hitzlberger

Widmung: Wolfgang Osthoff zum 60. Geburtstag

Aufführungsdauer: 3 Minuten

Autograph:
Titel: Herbsttag (R. M. Rilke)
Umfang: 4 Seiten
Datierung: 25.Okt 80
Aufbewahrungsort:

Verlag: freier download:

für mittlere Stimme (Original)für hohe Stimmefür tiefe Stimme

 

Herbsttag (Rainer Maria Rilke)

Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

 

Der 1987 zum 60. Geburtstag eines befreundeten Musikwissenschaftlers geschriebene Herbsttag auf ein Gedicht von Rainer Maria Rilke verleiht dem seit den Storm-Liedern für Hummel so zentralen Thema eine weitere charakteristische Prägung. Seine Ambivalenz (Befiehl den letzten Früchten voll zu sein) spiegelt sich musikalisch in Querständen und damit verbundenem Changieren zwischen Dur und Moll. Dadurch kommen aber auch die bei Hummel eher seltenen milden Terzen und Sexten mit ins Spiel. Es gelingt dem Komponisten, Rilkes anwachsende Strophen (3, 4 und 5 Verse) in ihrer formalen und inhaltlichen Dynamik unter einem großen musikalischen Bogen zu fassen. Innerer Höhepunkt ist das Ende der zweiten Strophe, d.h. der einzige Vers, den Hummel wiederholt: Die letzte Süße in den schweren Wein. In seiner breit ausschwingenden Sequenzierung (melodisch abgeleitet aus der kurz zuvor erklingenden Wendung südlichere Tage) ist dies eine jener Stellen, wo sich melodische Qualitäten von Hummels Liedern besonders eindrucksvoll manifestieren.

Wolfgang Osthoff (in "Zu den Liedern Bertold Hummels" Tutzing, 1998)

 

Wolfgang Osthoff
Zu den Liedern Bertold Hummels