Texte über Bertold HummelBer

Publikation: Komponisten in Bayern: BERTOLD HUMMEL
Reinhard Schulz
: Anmerkungen zu Bertold Hummel
Claus Kühnl: Klassische Ordnung erweitert
Hans Maier: Bertold Hummel / Plädoyer für das originelle Œuvre des zeitgenössichen Komponisten


Publikation:

S. Fink, C. Kühnl, W. Osthoff, H. Schmidt-Mannheim, K. H. Stahmer, F. A. Stein

Komponisten in Bayern, Band 31:
BERTOLD HUMMEL

Verlag Hans Schneider, Tutzing, 1998,
herausgegeben im Auftrag des
Landesverbandes Bayerischer Tonkünstler e. V. im DTKV
von Alexander L. Suder

ISBN 3 7952 0944 7


Reinhard Schulz

Anmerkungen zu Bertold Hummel

Der Zerfall der Einheit innerhalb der Zeitgenössischen Musik findet nicht zuletzt darin seinen Niederschlag, dass dem Musiker droht, auf der Strecke zu bleiben. Die Einheit zwischen musikantischem Gestus und Gewicht der Aussage scheint unterminiert. Die Debatte darüber, ob Neue Musik ins Abonnement gehöre oder besser nach alternativen Räumen Ausschau hielte, spricht im wesentlichen auch dieses Dilemma an. In der Zwischenzeit aber wachsen junge Interpreten heran, die sich - zumindest teilweise - von ihren Komponistenkollegen im Stich gelassen fühlen. Diese nämlich fordern vom Orchestermusiker ein Höchstmaß an Technik, Flexibilität und Konzentration, dem Bedürfnis nach umfassender Präsentation wird hingegen weit spärlicher nachgegeben. Es bildet sich vor allem in Kreisen der Kritik das Verdikt gegenüber der "Spielmusik" aus, die sich nur im eigenen Kreise drehe und den weitergeschrittenen Tendenzen des Materials nicht Rechnung trage.

Das Defizit aber blieb. Um ihm zu begegnen, entstand hieraus in Deutschland eine kompositorische Richtung, die sich insbesondere am Schaffen Paul Hindemiths orientierte. Heute findet diese Richtung wieder weit entschiedeneres Gehör. Ihr gehört auch Bertold Hummel an, der über seinen Lehrer Harald Genzmer gewissermaßen als "Enkel" Hindemiths angesehen werden kann. Man kennt keine Berührungsängste was musikantische Spielformen, auch was pädagogische Aspekte des Musizierens betrifft. Dass dies auf große Resonanz trifft, belegen schon allein die Aufführungszahlen, die die der Avantgarde oft bei weitem übertreffen.

Bertold Hummel, geboren 1925 in Hüfingen, also nahe bei Donaueschingen, wo Hindemith zu dieser Zeit seine Konzerte mit zeitgenössischer Musik installierte, zählt sich nicht zu dieser Avantgarde mit ihren Selbstisolierungstendenzen, mit ihrer hausgemachten Ghettoisierung. Nie suchte er mit seiner Musik aus dem Rahmen der tradierten Konzertformen auszubrechen, er betrachtet sie als angestammte Form musikalischer Kommunikation mit ihren weiten Möglichkeiten vom großen Konzertsaal bis hin in die Kirche. So zählt denn auch die Kirchenmusik für den Katholiken Hummel zu einem seiner wesentlichen Betätigungsgebiete. Hier entstand im vergangenen Jahr ein monumentales, zweieinhalbstündiges Hauptwerk, das Oratorium "Der Schrein der Märtyrer", das in Würzburg uraufgeführt wurde, wo er seit 1963 als Kompositionslehrer tätig ist. Zwischen 1979 und 1997 war er Präsident der Hochschule, daneben leitete er von 1963 bis 1988 das Studio für Neue Musik Würzburg.

Viele Kompositionen Hummels entstanden im Umfeld mit den Konzerten beim Studio für Neue Musik, auch in Zusammenarbeit mit der Schlagzeugschule von Siegfried Fink. In diesen Werken verbindet sich pädagogischer Ansatz mit einem ganz persönlichen musikantischen Stil.

Originalität sowie "Anwendbarkeit" der Musik standen für Bertold Hummel immer im Mittelpunkt seines kompositorischen Denkens. Dabei verließ er sich durchaus auf barocke oder klassische Musikschemata, die Sonatine, das Divertimento oder auch die Suite wurden immer wieder als Basis für die Werke herangezogen, vor allem wenn das spielerische Moment in Zusammenhang mit dem pädagogischen im Mittelpunkt stand.

In eigenständigeren, vielleicht gewichtigeren Arbeiten, entstand daneben in Auseinandersetzung mit neueren Erfahrungen der Avantgarde-Kompositionen ein "Klangfarbenstil", der den außerordentlichen Instrumentationsfähigkeiten Hummels besonders entgegenkam. Auch hier aber sah er sich auf der Seite des "Anwenders" wie er überhaupt grundsätzlich in der Geschichte zwei Typen von Künstlern, von Komponisten ausmachte: die "Erfindernaturen" (Hummel bezeichnete sie als "Leuchttürme" wozu er etwa Haydn, Beethoven, Liszt, Debussy oder Schönberg zählte, und die "amalgamierenden Naturen", wozu er etwa Bach, Mozart oder Brahms rechnete. Hummel fühlt sich der zweiten Gruppe in seinem Schaffen enger verbunden, stets versucht er Experimente und deren Ergebnisse in sein Schaffen stimmig zu integrieren, sie dem Interpreten, gleichsam durch die eigene Brille gesehen, zur Verfügung zu stellen. Freilich birgt dies immer die Gefahr des Schematismus, dem gerade aber steht das Moment der Originalität gegenüber. Hieran erweist sich letztlich das Gelingen eines Werkes. Dem Druck aber zwischen Pädagogischem Impetus, Spielmusikhaltung und individueller Note hat es standzuhalten. Ansonsten kommt das Schaffen unter die Räder der Banalität oder des Elitären.

(aus dem Programmheft der Münchner Philharmoniker: 2. Kammerkonzert, München 1990, S.4-5)


Claus Kühnl

Klassische Ordnung erweitert
Bertold Hummel - Komponist im zwanzigsten Jahrhundert

Bertold Hummel, dessen Metier das Komponieren und nicht das präzise Reden und Schreiben über Musik gewesen ist, hat sich, auf sein Schaffen zurückblickend, in den vergangenen fünf Jahren hin und wieder selbst als Eklektizisten bezeichnet. Da er natürlich wusste, dass dieser Begriff in der Regel als Negativvokabel gebraucht wird - "eklektisch" meint: aus Vorhandenem auswählend, daher unoriginell - sprach er manchmal von einem "schöpferischen Eklektizismus".

Im Nachruf der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. August 2002 schrieb Michael Gassmann: "Er sah sich als jemand, der ,sämtliche Experimente beobachtet und analysiert hat’.
Bertold Hummel war also alles das, was ein Avantgardist nicht ist - aber er war ein Begeisterter."
Dies scheint mir etwas überspitzt formuliert, enthält aber einen wahren Kern. Worin unterschied sich also Bertold Hummels Musikmachen von dem der Avantgarde der fünfziger und sechziger Jahre, denn dies waren die entscheidenden Jahre seiner Generation, und wenn er ein Begeisterter war, wovon war er begeistert?
Programmatisch für die gesamte musikalische Avantgarde formulierte Karl-Heinz Stockhausen in seinem Arbeitsbericht 1952/53 deren ästhetischen Ansatz wie folgt: "Auf die unmittelbare Klangvorstellung kann man sich nicht mehr verlassen. Die Klangvorstellung ist durch alle Musik bestimmt, die man bisher gehört hat. Wenn sie weiterhin Gültigkeit hätte, müsste man sich auch weiterhin der klassischen Ordnung fügen." 1

Die schöpferische Alternative zum Weitermachen wie bisher brachte bekanntlich die serielle und die elektronische Musik hervor, deren Genese anfangs mit seriellen Methoden zustandegebracht wurde. Bertold Hummel hat in der Tat keines seiner Werke auf serielle Techniken gestützt. Mir gegenüber erwähnte er einmal, er hätte in seinen Anfängen Studien mit totaler Vorherbestimmung von Tonhöhen, Dauern und Klangfarben durchgeführt, sei aber von den Ergebnissen abgestoßen gewesen.
Hummel sah für sich keine Notwendigkeit, den klassischen Ordnungen die Gültigkeit abzusprechen. Freilich wollte er sich ihnen auch nicht ohne weiteres fügen. Er wollte diese Ordnungen, wo es seine schöpferische Neugierde gebot, erweitern und um eigene Lösungen bereichern: Dies war seine, im Anfang meines Unterrichts bei ihm stets betonte Vorstellung von Originalität. Deshalb rang er, ab den siebziger Jahren mit zunehmender Hartnäckigkeit, um einen Personalstil, während die Avantgarde einem solchen Bemühen ausdrücklich abschwor und mit jedem Werk die Musik gewissermaßen neu erfinden wollte. In diese Richtung zielt auch ein Satz der noch jungen Komponistin Isabel Mundry: "Dem, was man kann, in einem kreativen Sinn misstrauen - ich hoffe, mich so zu bewahren und zugleich in Bewegung zu halten. Vielleicht gelingt einem Authentizität eher, wenn man vermeidet, sie zu pflegen." 2
Stehen sich hier womöglich zwei miteinander unvereinbare Haltungen gegenüber?
Tatsache ist, dass Bertold Hummel bis zuletzt der kreativen Spontaneität mit anschließend akribischer Ausgestaltung eines jeden Details Priorität in seinem Arbeitsprozess eingeräumt hat.
Dass seine Klangvorstellung durch "alle Musik, die man bisher gehört hat", mitbestimmt wurde, war für ihn ganz natürlich und kein Grund, gegen diese Tatsache zu rebellieren. Darüber hinaus kannte er die Errungenschaften seiner Epoche, auch solche, deren Segnungen er nicht akzeptierte. Man könnte in Bezug auf die Musik seiner Zeit sagen, er war topp informiert und jeder, der ihn kannte, weiß, dass er jedes Jahr in Donaueschingen anzutreffen war, kaum eine wichtige Rundfunksendung seiner Region ausließ und mit seinen ehemaligen Schülern alles durchdachte, was man ihm vortrug. Allerdings hatte er - wie jeder Komponist - gewisse Vorlieben. Er liebte den Gregorianischen Choral, die Klassiker, Anton Bruckner, Alban Berg, Paul Hindemith und Olivier Messiaen, dem er sich auch in der Verlebendigung des Katholizismus verbunden fühlte.
Von ihnen war er begeistert und deren Musik ist durch ihn hindurchgegangen und hat Kraft seiner verwandelnden Persönlichkeit einen neuen Stil hervorgebracht.

(Neue Musik Zeitung, November 2002)

1 Karl-Heinz Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Köln 1963, S. 32
2 Isabel Mundry, Booklet-Text zur CD des Deutschen Musikrates, WERGO

 

Man hat sich in unserer Zeit allzu sehr daran gewöhnt, einen Komponisten an dem zu messen, was er "Neues" erfunden hat. Neue Effekte werden als Sensation empfunden, und doch sind sie bedeutungslos, solange sie nicht auf einer inneren Notwendigkeit basieren. In diesem Sinn kann man Hummel sicher nicht zu den Avantgardisten rechnen. Ebenso falsch wäre aber auch das Gegenteil, nämlich ihn etwa unter die Traditionalisten einordnen zu wollen. Hummel beherrscht alle wesentlichen neuereren Kompositionstechniken und setzt diese auch sinnvoll in seinen Werken ein. Deshalb eignen sich seine Werke auch besonders, neue Musik spontan zu erleben.

Claus Kühnl (1977, Schallplattentext: LP: Christophorus 73902)


Hans Maier

Bertold Hummel / Plädoyer für das originelle Œuvre des zeitgenössichen Komponisten

"Er komponiert!" Dieser Ruf eilte dem jungen Cellisten Bertold Hummel schon zu der Zeit voraus, als er in den ersten Nachkriegsjahren an der Freiburger Musikhochschule studierte. Wir Gymnasiasten, besonders diejenigen, die an Musik interessiert waren, hörten es mit Bewunderung. Es gab an dieser nach dem Kriege neugegründeten Musikhochschule manche Jung-Genies, die bekanntesten waren Fritz Wunderlich und Dietrich Fischer-Dieskau, es gab Sänger, Geiger, Cembalisten, Organisten - aber Komponisten? Das war etwas Besonderes. Was tut eigentlich ein Komponist?
Wir stellten uns vor, daß er am Klavier Akkorde probierte und Skizzen auf ein Notenblatt warf; oder wir sahen ihn vor gewaltigen Partiturblättern mit vielen Notenlinien und -schlüsseln sitzen - der Musik gebietend wie ein Schiffskapitän dem Meer und den Wellen. Unser Respekt wuchs noch, als eine Messe des noch unbekannten Komponisten Hummel bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt wurde. Daß Hans Heinz Stuckenschmidt das Werk und seine Wiedergabe verriß, focht uns nicht an. Wir waren stolz auf Bertold Hummel und wütend auf Stuckenschmidt (damals eine Art Reich-Ranicki der Musikkritik!).
Ich erinnere mich an einen Auftritt Paul Hindemiths in der Freiburger Musikhochschule, es muß 1949 oder 50 gewesen sein. Die an Musik Interessierten vom Bertold-Gymnasium hatten, um den berühmten Mann zu sehen, glatt die Schule geschwänzt. Es gab einen ungeheuren Auflauf auf den Treppenstufen des schönen Barockpalais am Münsterplatz, als der kleine, quirlige, rundliche Hindemith dort in unglaublichem Sprechtempo eine improvisierte, aber höchst gelehrte Rede über Musiktheorie zu halten begann.
Auch Harald Genzmer, Schüler Hindemiths, Professor für Komposition in Freiburg, Lehrer Hummels, war dort. Damals hat sich mir der Gedanke eingeprägt: Hindemith, Genzmer, Hummel - die müssen zusammengehören! Es stimmte ja auch; und Stuckenschmidts Reaktion sehe ich heute in diesem Licht: Es durfte einfach nicht sein, daß sich neben der Wiener Schule, die er publizistisch vertrat, noch etwas anderes, Eigenständiges regte.
Zum Glück hatte Bertold Hummel gute Nerven und bei aller Bescheidenheit das nötige Selbstbewußtsein. Er ging nach dem Studium erst einmal auf Konzertreisen, die ihn weit weg, bis nach Südafrika, führten, wobei er in Personalunion als Cellist und als Komponist auftrat. Dann wurde er seßhaft, heiratete 1955 die Geigerin Inken Steffen, wirkte als Kantor in Freiburg und als freier Mitarbeiter beim Südwestfunk Baden-Baden.
Mit Schalk in den Augen erzählte er, wie die Musiker beim Einüben einer seiner nicht ganz einfachen Partituren gestöhnt und geschimpft hatten: "Mathematische Musik, dös hammer fei gern, mein Herr!" Übrigens arbeitete er pausenlos weiter und verleibte sich allmählich die gesamte Moderne, auch die Wiener Schule, ein. Schon damals verblüffte Bertold Hummel durch seine stilistische Breite: Er konnte neben höchst raffinierten und artistischen Gebilden auch ganz einfache für Laien schreiben, konnte sich auf unterschiedliche Fähigkeiten einlassen, konnte abwägen und ausgleichen - so wie er später als Kompositionslehrer die melodischen Talente kontrapunktisch angefeuert und die Rhythmiker zur Melodie angeregt hat.

Die Stunde des Kompositionslehrers Bertold Hummel schlug 1963, als das Bayerische Staatskonservatorium Würzburg ihn als Dozenten für Komposition berief. Seither ist Würzburg für ihn, seine Frau und seine sechs Söhne - alle höchst musikalisch, fünf selbst Musiker! - zum Lebensmittelpunkt geworden. Er begründete und leitete das Studio für Neue Musik Würzburg, er darf als Gründervater der Hochschule für Musik Würzburg gelten, der er als Professor und später als langjähriger Präsident und Ehrenpräsident angehörte und bis heute angehört.
Aber er hat auch ebenso selbstverständlich in der Dommusik mitgewirkt. Ein leibhaftiger Bischof, Paul Werner Scheele, schrieb das Libretto für sein kirchenmusikalisches Magnum opus, den "Schrein der Märtyrer". Dies in einer Zeit, die für anspruchsvolle zeitgenössische Kirchenmusik nicht eben günstig war und die ihn bereits 1979 die skeptische Frage stellen ließ, ob es noch möglich sei, innerhalb der Kirche "den Streit um die Vergeistigung zu führen, ohne den ein Aufschwung nicht zu erwarten ist".
Was beeindruckt an Bertold Hummels in 100 Opus-Nummern, in Manuskripten, Partituren, Drucken, in zahlreichen Schallplatten und CDs vorliegendem Werk? Zunächst einmal seine ungewöhnliche Vielseitigkeit. Das im November 1995 abgeschlossene 30seitige Werkverzeichnis führt nahezu alle Kompositionsgattungen an: Bühnenwerke, Instrumentalwerke, Vokalwerke, Bühnen-, Hörspiel- und Filmmusiken. Eine Kammeroper, drei Ballette, drei Sinfonien und zahlreiche Werke für großes und kleines Orchester, eine Fülle von Kammermusik für Bläser und Streicher, Kompositionen für Gitarre, Harfe, Klavier, Orgel und - als besonderer Akzent - Percussion. Ein umfangreiches geistliches Vokalwerk, das ein Oratorium, sechs Messen, Proprien, Motetten, Kantaten und Sologesänge umfaßt, weltliche Vokalwerke, die von Chorwerken und Kantaten bis zu Sologesängen reichen.
Obwohl Bertold Hummel die Sprechweisen der musikalischen Moderne kennt und beherrscht, ist doch sein Werk nicht auf eine einzige Formel zu bringen. Er ist kein musikalischer Konstruktivist, kein Neo-Klassiker, kein Polystilist, kein Adept der Postmoderne. Ist er dann etwa - wie man die Hindemith-und Genzmerschüler manchmal mit finsterem Blick verdächtigt - ein dem Rhythmischen und Motorischen verpflichteter "Musikant"?
Alles andere als dies: So sehr seine Musik von vitalen Energie strotzt, so umsichtig und bewußt, so witzig und luzide wird das musikalische Material verarbeitet. Handwerks-Genauigkeit wird durch Virtuosität und farbigen Klangsinn glücklich ergänzt. Besonders die solistischen Partien steigern sich oft ins Artistische und Raffinierte.
Diese Musik mutet dem Hörer einiges zu. Sie verliert ihn aber nie aus den Augen und Ohren. Das Dreieck Komponist - Interpret - Hörer bleibt für Hummel nach eigenem Bekenntnis eine stetige Herausforderung. Und auch die Parameter der Melodie, des Rhythmus, der Harmonik müssen seiner Meinung nach immer wieder in ein spannungsvolles Gleichgewicht gebracht werden. Hummels Musik verharrt nicht in einem Pathos der Distanz - sie verlangt nach dem Hörer. Freilich will sie ihm nicht nur schmeicheln, ihn gar einlullen, sie fordert ihn heraus, will ihm etwas sagen.
Das gilt auch für Hummels Kirchenmusik, die in seinem Œuvre ganz selbstverständlich ihren Platz hat. Denn das Geistliche und das Profane - die Kunst, ein Gloria zu singen oder zum Tanz aufzuspielen - fallen bei ihm nicht auseinander; sie gehören zusammen und ergänzen sich. Die geistliche Musik bildet ein Kontinuum im Schaffen des Komponisten. Sie verbindet die Arbeitsabschnitte seines Lebens.

In der Werkstatt Bertold Hummels geht nichts verloren. So hörte der Neunjährige in Freiburg Bruckners Dritte Sinfonie und war überzeugt: Ich muß Komponist werden! Er notierte sich eine viertaktige Akkordfolge, die er lange später in seinem dreisätzigen Orgelwerk "In memoriam Anton Bruckner", das 1989 im Leipziger Gewandhaus uraufgeführt wurde, wieder zitierte.
Anton Bruckner und Olivier Messiaen haben den Kirchenmusiker Bertold Hummel ebenso durch ihre Frömmigkeit wie durch ihren Avantgardismus beeindruckt. Auch seine eigene geistliche Musik ist kühn und herb, komplex und fordernd. Immer wieder hat Hummel die französische Orgelmusik des 20. Jahrhunderts rühmend hervorgehoben: Ihr sei es gelungen, das Zeitgenössische im Bewußtsein des Kirchenvolkes zu verankern und jene Gettobildung zu vermeiden, die anderswo oft die geistliche Musik ins Abseits gedrängt hat.
Bertold Hummel ist vielfach ausgezeichnet worden. Schon 1956 war er Stipendiat des Bundesverbandes der deutschen Industrie. 1960 erhielt er den Kompositionspreis der Stadt Stuttgart, 1961 den Robert-Schumann-Preis der Stadt Düsseldorf, 1988 den Kulturpreis der Stadt Würzburg. 1968 war er Stipendiat der Cité des arts internationale de Paris. Seit 1982 gehört er der Bayerischen Akademie der Schönen Künste an, hält Vorträge im In- und Ausland. Die größte Auszeichnung freilich sind die Aufführungen seiner Werke in aller Welt: neben den europäischen Ländern vor allem in den USA, Südamerika, Kanada, Rußland, Japan, Australien.
Man wünschte sich ähnliche Rekord-Zahlen auch für Deutschland - und für Bayern. Der Prophet ist zwar im eigenen Land nicht unbekannt - doch könnte er ruhig noch bekannter werden. Denn seine Musik - so Karl Schumann bei Hummels 65. Geburtstag- "hat das, was man sich wünscht: Substanz und Metier, Eigenart und kompositionstechnischen Schliff, handwerkliche Präzision und Tiefgang ..." Nicht zuletzt spricht dieser Komponist auch jene an, "die über die Einzelheiten der stets eigenwilligen und ausgefeilten Satztechniken hinweghören".

(Rheinischer Merkur, Nummer 22, 30. Mai 1997)



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